Dienstag, 13. Dezember 2011

Lucifer

Tausend Menschen um mich herum. So viele Menschen, auf den Straßen, auf den Gehwegen, in den Parks. Überall Menschen, wie die Ameisen strömen sie aus allen Ecken, ein riesiger Strom, und mitten drin: ich. Allein. Allein in dieser Menschenmasse.
Ich habe meine Kopfhörer in den Ohren, die Stimme von Chris Pohl im Kopf. Vielleicht ist dieser Mensch, der nur Worte übrig hat wie all die anderen auch, ja, vielleicht ist er doch derjenige, der einzige, der mein Leid versteht.
Und wenn das alles ist was bleibt, dann woll'n wir anders sein...
Die Sonne scheint. Es ist warm.So schön warm. Aber warum kommt diese Wärme nicht in meinem Inneren an? Warum bleibt es in mir so kalt und leer?
Ich hülle mich fester in meinen Mantel, und obwohl es doch recht warm ist trage ich darunter einen dicken Pullover, Handschuhe, eine Mütze und ziehe die Kapuze über meinen Kopf. Ein Schal verhüllt den Rest meines Gesichts. Niemand soll mich sehen. Niemand soll mich betrachten. Ich fühle mich nicht schön. Sie lügen. Ich bin nicht schön, nein. Ich verstecke mich vor ihnen.
Well, everyone speaks, but nothing is said...
Nein, niemand darf mich sehen. Außer dir. Ich drücke auf den Klingelknopf. „Ja?“ „Ich bins.“ Der Summer geht und ich betrete das Haus. Erster Stock, linke Tür. Oder auch Paradies genannt. Denn das ist der Ort, an dem Engel bekanntlich leben. Der Himmel.
Der Himmel ist eigentlich nur eine Zweiraumwohnung, eher spärlich eingerichtet, aber du bist sowieso meistens unterwegs. Der Engel ist schön, anders lässt es sich nicht beschreiben. So zeitlos, in Optik und Charakter. Du könntest fünfundzwanzig Jahre alt sein, aber auch fünfundvierzig. Ich weiß, wie alt du bist. Und um so mehr schäme ich mich meiner Sucht nach dir.
Die Tür öffnet sich, ich betrete dein Reich. Schuhe aus. Und schon nimmst du mich in den Arm und drückst mir deine Lippen auf. Ich versuche schon gar nicht mehr, mich zu wehren. Du bist vermutlich der einzige Mann, bei dem ich schwach bin.
Ich war immer stark. Man assoziierte mich mit einem Raubtier, einer Katze, ich hatte Krallen und ich hatte Zähne. Ich wusste sie zu nutzen. Ich setzte mich durch. Man nannte mich Schmerzengel, denn ich war nie gnädig, nein, niemals, ich nahm mir immer, was ich wollte, und wenn ich dafür Menschen zerbrach. Ich war gnadenlos und ich war die Königin meiner Welt.
Warum hast du mir meine Krone genommen? Wie hast du es geschafft? Ich nahm dich, um auch dich unter meine Herrschaft zu zwingen. Und du drehtest den Spieß um.
Wieder bleibt die Zeit stehen, während du mich beherrschst, wieder weiß ich nicht: sind es Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, die wir nicht zählen?
Als die Zeit wieder anläuft ist es wieder das selbe Spiel: Schmerz. Physisch. Psychisch. Du hast mich zum Masochisten gemacht, denn, ja: ich liebe diesen Schmerz. Ich bin süchtig nach ihm, er ist meine Droge, und dies war ein neuerlicher Schuss, direkt in mein Herz. Nur eine weitere Narbe.
Mein Kopf ruht auf deiner Brust, ich höre deinen Herzschlag und deinen schweren Atem, während du deine Zigarette anzündest. Ich sage nichts. Es würde eh nichts nützen.
Ich zähle die Herzschläge, bis deine Zigarette aufgebraucht ist. Die letzten Minuten, die uns bleiben. Dreihundertzwölf Schläge sind es. Fünf Minuten.
Du schiebst mich weg, gibst mir noch einen Kuss auf die Stirn, dann stehst du auf und gehst duschen. Ich ziehe mich an. Ein Stich im Herzen.
Als du aus dem Bad kommst ziehe ich gerade meine Schuhe an. Du sagst nichts. Ich auch nicht. Ich nicke dir lediglich noch einmal zu, bevor ich gehe. Ein neuer Stich.
Ich stöpsele meine Kopfhörer rein und überlasse meinen Geist wieder Chris Pohl.
She's in love with the devil, she's in love with lucifer...
Nein, wie passend.
Ja, ich liebe dich. Ich vermute, das wissen wir beide nur zu gut. Und doch wage ich es nicht, es auszusprechen. Ich will nicht, dass der Engel fällt. Dass er zum Teufel wird. Ich will dich genauso rein und wunderschön in Erinnerung behalten.
Nein, ich werde nicht wieder kommen. Ich werde niemals wieder ins Paradies zurück kehren. Ich bin Eva.
Ich betrete den Hausflur. Den Falschen.
Ich betrete die Wohnung. Nicht das Paradies.
Meine Mutter sagt etwas, aber ich höre nicht hin.
Ich betrete mein Zimmer.
Fire's falling from the skies, she's burning down her path. She turns in new life to hell with jesus christ...
Ich öffne die Schublade und nehme die Schachtel heraus. Tabletten. Zehn Stück. Lege mich ins Bett.
Chris Pohl verhallt in meinem Kopf. Mit dir kann ich nicht glücklich sein. Also werde ich es niemals sein. Lebe Wohl, Luzifer.

Anm. d. Autorin: Diese Kurzgeschichte beschreibt nicht mein wahres Leben. Es beschreibt einen Gedanken. Einen Moment, der sich lediglich in meinem Kopf geformt hat. Nein, ich liebe keinen viel zu alten Mann und nein, ich hege keine Selbstmordgedanken, alles gut :) Danke :)

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