Dienstag, 13. Dezember 2011

"Grau" oder "Der Fleck"

Ein Tag wie jeder andere. Die Straßenbahn. Die Leute. Die Leute die ihm Gegenübersitzen. Das Prinzip ist einfach: Er beachtet sie nicht, und sie beachten ihn nicht. Niemand beachtet irgendwen, alle lassen sie sich in Ruhe und alle sind glücklich. Oder auch nicht. Interessiert nur niemanden.
Draußen ist es dunkel. Es schneit ein wenig, ja, vereinzelte weiße Pünktchen tanzen durch die Nacht. Uniform. Aber eine Einheit, denn sie alle sind weiß und klein und nass und kalt, sie sind alle eins, sie sind alle gleich.
Er betrachtet sie mit Gleichgültigkeit, so wie alles. Die Menschen, die Straßenbahn, die sich langsam leert, je näher sie der Endhaltestelle kommt. Das Wetter, der Verkehr, was auch immer. Die Welt ist grau, und er ist grau in grau ein Teil von ihr. Wen interessiert das schon?
Fünf Haltestellen trennen ihn von seinem Zuhause. Das Zuhause ist nicht grau. Es ist auch nicht kalt, nein, es ist warm und erfüllt von Licht, das alles bunt macht. Dort sind seine Frau und seine Kinder, die auf ihn warten, zusammen mit einem großen Topf Suppe oder irgendetwas anderem zu essen, was köstlich duften und noch köstlicher schmecken wird. Eine Familie, ein Leben. Ein Leben, dass es wert ist, darüber nachzudenken und sich dafür zu interessieren. Ein Leben, das Glücklich macht.
Der leere Blick wandert einmal durch den Wagon. Er ist nicht sonderlich voll, nur sechs Menschen, ein Fahrrad, ein Hund und er. Das Fahrrad ist rostig. Der Hund ist klein und sieht aus, als ob man froh darüber sein könnte, dass sein Gebell in unerträglichen Frequenzen nicht durch den Raum hallt und er einfach so still ist wie alle, die in der Bahn sitzen, ohne Anteil zu nehmen an dem, was sie nichts angeht.
Ein Farbfleck! Ein einsamer Farbfleck, ein paar Meter entfernt von ihm!
Es ist paradox, es Farbfleck zu nennen, denn es ist schwarz. Von Kopf bis Fuß eingehüllt, schwarzer Mantel, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Nur ein roter Haarschopf lugt aus dem Kragen hervor, zusammen mit einem weißen Gesicht. Das Gesicht ist so klein und schmal wie der Rest des Flecks, zierlich und elfenhaft. Eine kleine süße Stupsnase, ein voller Mund mit schwarzen Ringen in den Lippen. Und zwei große blaue Augen.
Die Augen starren. Nein, starren ist das falsche Wort, sie gucken. Sie gucken ernst, forschend, direkt in seine Augen. Hemmungslos.
Er ärgert sich. Hat dieses Mädchen nicht verstanden, wie es läuft in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Großstadt? Wie es zu laufen hat! Hat ihm niemand das Prinzip erklärt, das besagt: Allgemeine Gleichgültigkeit für alle?
Er wendet den Blick ab, denn er will sie nicht animieren, weiter zu stieren. Aber er kann doch nicht wegsehen.
Er stellt es geschickt an, ja, er ist nicht dumm. Sein Blick gleitet über zum Fenster. Die Scheibe spiegelt, denn es ist dunkel draußen, doch im Wagon ist Licht. Er kann sie sehen in der Scheibe, aber es sieht aus, als würde er den Schneeflocken beim tanzen zusehen. Klug gemacht hat er das, und er lobt sich selbst in Gedanken.
Und da starrt sie wieder. Im Spiegel begegnen sich die Blicke wieder. Auch die Kleine ist klug, wie es scheint. Er sieht schnell weg, peinlich berührt. Ertappt.
Die kühle Frauenstimme schallt aus dem Lautsprecher. Die Haltestelle. Ja, die Frauenstimme hat das Prinzip verstanden. Gleichgültigkeit für alle.
Er steigt aus. Hinaus in den Schnee. Weg von der Göre, die ihn nicht einfach in Ruhe lässt, so wie all die anderen auch.
Als die Bahn an ihm vorbeizischt kann er es sich nicht verkneifen, einen letzten Blick auf das Mädchen zu erhaschen. Aber ihr Sitz ist leer.

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